Neue Ideen für die Seniorenbetreuung

Neue Ideen für die Betreuungsarbeit

„Ich muss jetzt nach Hause!“

Was bedeutet diese Aussage und wie können wir damit umgehen?

Wenn ein Mensch mit Demenz uns sagt, er müsse nun nach Hause, dann macht uns das manchmal unsicher. Wie sollen wir darauf reagieren? Soll man die Aussage wörtlich verstehen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Die zwei häufigsten Reaktionen seitens der Betreuungskräfte oder auch der Angehörigen sind leider nicht hilfreich. Im Pflegeheim erhalten Menschen mit Demenz oft die Antwort: „Ja, wir gehen gleich nach Hause, Frau Müller“. Dies ist nichts anderes als eine Notlüge und ein Versuch, den alten Menschen zu vertrösten. In der häuslichen Pflege hört man häufig die Antwort: „Aber Du bist hier doch zuhause! Schau Dich doch mal um! Das ist Deine Wohnung!“

Diese rein rationale Antwort kann der Mensch mit Demenz nicht nachvollziehen, denn für ihn ist es ja offenbar nicht der Fall, dass er sich zuhause fühlt.

Um das Gefühl geht es nämlich hier eher als um die rein rationale Erkenntnis „dies hier ist meine Wohnung“. Jedenfalls macht es selten Sinn, einem Menschen mit Demenz mit Fakten und Kopfwissen zu begegnen.

Jede Aussage eines dementen Menschen hat einen Sinn für ihn selbst. Er will damit etwas zum Ausdruck bringen. Deshalb sollten wir ihn immer ernst nehmen und uns bemühen, seine Welt und seine Sicht zu verstehen. Dabei können wir ihn nicht mit dem Kopf, sondern nur mit dem Herzen verstehen.

Was also kann nun die Aussage „Ich muss nach Hause“ bedeuten? Je nach Situation und Person gibt es hier verschiedene „Übersetzungsmöglichkeiten“.

Hier ein paar Bedeutungen, die möglicherweise in Frage kommen:

Die Umgebung kommt mir fremd vor

Ein Seniorenheim wirkt nicht unbedingt wie eine Wohnung, sondern mit den langen Fluren und großen Aufenthaltsräumen doch eher wie eine Institution. Ein Bewohner eines Seniorenheims empfindet das möglicherweise nicht gemütlich, behaglich, vertraut. Hoffentlich ist sein Zimmer im Heim mit seinem persönlichen Mobiliar, persönlichen Gegenständen und vertrauten Bildern an der Wand eingerichtet worden. Vielleicht fühlt er sich daher in seinem Zimmer zuhause. Es ist einen Versuch wert, ihn einfach in sein Zimmer zu begleiten, denn vielleicht konnte er es nicht selbst finden.

Wenn es gegen Abend anfängt zu dämmern, haben viele Menschen das Gefühl, jetzt nach Hause zu müssen. Menschen mit Demenz leben meist in der Vergangenheit. Wenn man sich selbst für eine Jugendliche hält, dann muss man „zuhause sein, wenn es dunkel wird“. Auch eine ordentliche Hausfrau musste am frühen Abend zuhause sein, um dem Ehemann ein Essen vorzubereiten, wenn dieser von der Arbeit kam. In dieser Rolle sehen sich Frauen mit Demenz häufig wieder.

Ich bin sehr müde – ich möchte ins Bett

Ähnlich wie im ersten Beispiel besteht die Möglichkeit, dass der Senior sich nicht geborgen fühlt und im Aufenthaltsraum womöglich zu viele Geräusche und Reize auf ihn einströmen. Das Bett ist für die meisten Menschen ein Ort großer Geborgenheit. Wenn Sie den Menschen mit Demenz kennen, werden Sie recht schnell herausfinden, ob er einfach nur müde ist und in sein Bett möchte.

Ermöglichen Sie ausreichende Ruhezeiten – auch tagsüber, wenn nötig. Betreuungskräfte haben nicht nur die Aufgabe, Senioren zu beschäftigen, sondern auch, für einen Tagesrhythmus zu sorgen und dazu gehört es auch, sich auszuruhen. Natürlich sollten die Tagesruhezeiten nicht so lange sein, dass der Betroffene dann nachts nicht mehr müde ist und herumgeistert.

Ich sehne mich nach Geborgenheit

Wenn der demenzkranke Mensch nicht müde ist, aber das Bedürfnis nach Geborgenheit spürt, kann es sein, dass er diese Geborgenheit eben „zuhause“ sucht. „My home is my castle“, sagt man im Englischen. In diesem Fall steht der Begriff „zuhause“ stellvertretend für einen Ort der Geborgenheit und Sicherheit. In einem großen Raum zusammen mit vielen anderen Menschen empfindet man dies eher als öffentlichen Raum. Geborgenheit kann aber nicht nur ein Raum, sondern auch eine Person geben, wenn diese Person Nähe und Zuwendung gibt. Ein Dialog im Seniorenheim verlief folgendermaßen: „Ich will heim!“, sagte die über 90jährige Dame laut und mit leicht jammerndem Tonfall. Mich erinnerte der Tonfall an ein kleines Kind, das nach der Mutter ruft. Ich stellte Augenhöhe her, indem ich vor der Dame in die Hocke ging und fragte: „Wer ist denn daheim?“ Die Antwort kam prompt: „Die Mutter!“ „Aha! Wie ist denn die Mutter?“, fragte ich weiter. „Ach, die ist gut!“, seufzte die Dame. „Sie hatten eine gute Mutter. Hat die Mutter Sie auch getröstet?“, ging ich auf sie ein. „Ja!“, nickte die alte Dame. „Darf ich Sie trösten? Darf ich Sie einmal umarmen?“, fragte ich. Sie nickte. Ich umarmte sie und sie wurde schnell ruhiger. Ich wusste, dass die Dame noch lesen konnte und dass sie früher gerne zur Kirche ging. Daher ging ich ins Büro, druckte schnell einen Bibelvers in großer Schrift aus, klebte ihn auf ein Faltkärtchen aus festem Karton und brachte ihn der Dame an ihren Tisch. Ich las ihr das Kärtchen nochmal laut vor und sagte: „Das ist für Sie!“ Dann stellte ich das Kärtchen in Sichtweite vor sie auf den Tisch. Der Spruch lautete: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet!“ (Jesaja 66, 13)

Dann drückte ich der Dame nochmal lange die Hand. An diesem Tag äußerte Sie kein einziges mal mehr, dass sie „heim“ wolle.

Ich habe Langeweile, ich brauche eine Aufgabe

Wie oben schon erwähnt, sehen vor allem Frauen, die früher Hausfrauen waren, ihre Aufgabe im Haushalt. Um den Haushalt zu erledigen und seinen Pflichten nachzukommen, muss die gute Hausfrau eben „nach Hause“. Dort warten schon die Bügelwäsche, der Herd, der Staubsauger usw.

Möglicherweise möchte uns die Dame mit Demenz einfach nur mitteilen, dass Sie eine Aufgabe braucht. Wenn Sie Hausarbeiten auch im Seniorenheim durchführen kann, führt das zu Zufriedenheit und verringert das Gefühl, „nach Hause“ zu müssen.

Manche Menschen waren ihr ganzes Leben lang sehr aktiv und „immer auf den Beinen“. Vielleicht hilft es in diesem Fall, mit der betroffenen Person täglich einen langen Spaziergang zu machen, damit sie ihr gewohntes Pensum an Bewegung hat.

Ich muss zur Toilette

Gar nicht selten, steckt hinter der dringend geäußerten Aussage, „nach Hause“ zu müssen, die Suche nach einer Toilette. Man kennt sich im Seniorenheim nicht aus und man möchte auch nicht irgendjemanden nach der Toilette fragen (sind ja lauter fremde Leute!). Viele Menschen gehen auch sehr ungern in einer fremden Umgebung zur Toilette. Besonders, wenn betont wird „ich muss heim“, kann dieses einfach zu lösende Problem hinter der Aussage stecken. Durch höfliches Nachfragen findet man das schnell heraus und kann dann entsprechend die betroffene Person zur Toilette zur führen.

Richtig fragen hilft

Um aus den vielen Möglichkeiten die richtige herauszufinden, sollten wir zwei Dinge beherzigen.

Erstens sollten wir nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen hören. Dazu gehört es unbedingt, auf den Tonfall und die Mimik des dementen Menschen zu achten. Welche Resonanz hinterlässt der Tonfall der Frage bei Ihnen? Hören Sie da ein Kind heraus? Oder eher eine resolute Hausfrau?

Zweitens sollten wir niemals „wieso – weshalb – warum“ fragen. Dies sind Fragen, die auf das Rationale abzielen und die kein dementer Mensch beantworten kann. Viel hilfreicher, wenn auch ungewohnt, sind die Fragen „Wer ist denn zuhause?“, „Was ist denn zuhause“ und „Was machen Sie zuhause“. Die Frage „wo ist ihr Zuhause“ kann eher zu noch mehr Verwirrung führen und sollte nur gebraucht werden, wenn schon nach dem „wer“ und „was“ gefragt wurde.

Wenn der alte Mensch auf seinem Wunsch nach Hause zu gehen beharrt, dann sollten wir ihm mit Verständnis begegnen. Seinen aktuellen Wunsch, sein Gefühl, sein Bedürfnis ernst zu nehmen ist Ziel der sogenannten Validation. Validation beutet soviel wie „wertschätzen“. Wenn wir dem alten Menschen auf Augenhöhe begegnen und ihm sagen „ja, zuhause ist es halt am schönsten“, dann fühlt er sich verstanden. Einer Hausfrau, die zuhause nach ihren Kindern schauen muss könnten wir sagen: „Sie sind eine gute Mutter!“ oder „Kinder sind ein großer Schatz!“.

Sie werden wahrscheinlich nicht sofort den individuell richtigen Weg finden, um mit einem alten Menschen, der nach Hause will, umzugehen. Versuchen Sie zuerst das Naheliegendste und machen Sie einfach weitere Versuche, wenn der erste Versuch keinen Erfolg hat.

Lassen Sie sich nicht entmutigen und bleiben Sie gelassen! Und vor allem: Nehmen Sie die Ihnen anvertrauten Menschen mit Demenz und ihre Bedürfnisse ernst. Sie werden es Ihnen danken!

Volker Gehlert, Dementia Care Manager (DCM)